Von: Christoph Hoffmann – Giessener Allgemeine vom 07.10.2025

Einwanderung ist für die Bewältigung des Fachkräftemangels von zentraler Bedeutung. Gleichzeitig sind Sprachkenntnisse unabdingbar, um in der neuen (Arbeits-)Welt Fuß zu fassen. Die Gießener Sprachportal Akademie hat daher mit der Universität von Hanoi eine Kooperation geschlossen, um etwa Pflegekräften das passende sprachliche Rüstzeug mit auf den Weg zu geben.
Auf dem Bildschirm erscheint eine Krankenpflegerin und begrüßt die Zuschauer. »Bist du bereit, mit mir die Station kennenzulernen«? Diese kleine Szene stammt aus einem Kurs, den die Sprachportal Akademie aus der Gießener Bahnhofstraße entwickelt hat. An diesem Vormittag schaut sich niemand Geringerer als Dr. Nguyen Tien Luan, der Präsident der Nguyen Trai Universität in Hanoi, diese Präsentation an. Der Besuch des hochrangigen Vertreters des vietnamesischen Bildungssystems freut die Geschäftsführung des Sprachportals um Sönmez Karakaplan, Wen Wu und Daniel Georg. Denn die beiden Seiten haben eine Kooperation geschlossen, damit Fachkräfte aus Vietnam leichter die deutsche Sprache lernen und so auf dem deutschen Arbeitsmarkt aktiv werden können.
Der demografische Wandel in Deutschland ist eine Triebfeder des Fachkräftemangels. Der (bevorstehende) Ruhestand der geburtenstarken Jahrgänge reißt eine Lücke ins System, den die geburtenschwachen Jahrgänge nicht füllen können, zumal die Zahl der Geburten weiter abnimmt. Viele Experten sind sich daher einig, dass der Personalmangel nur durch Arbeitskräfte aus dem Ausland gelöst werden kann. Gerade im Pflegebereich greifen Arbeitgeber daher schon längere Zeit auf ausländische Mitarbeiter zurück. Das Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) etwa hat bereits Pflegekräfte aus Albanien, Myanmar, der Türkei und von den Philippinen rekrutiert. Das St. Josefs Krankenhaus Balserische Stiftung hat vergangenes Jahr verkündet, 18 Pflegefachkräfte aus Thailand zu beschäftigen. Womöglich werden schon bald helfende Hände aus Hanoi die Pflegeteams verstärken.
Deutschland hat eine lange vietnamesische Einwanderungsgeschichte. In der Folge des Vietnamkriegs flohen Hunderttausende Menschen vor dem siegreichen kommunistischen Regime, viele über das Südchinesische Meer als sogenannte Boat People. Auch Deutschland nahm Tausende Vietnamesen auf. »Viele Vietnamesen haben früher in Deutschland beziehungsweise in der DDR studiert und ein gutes Bild von dem Land«, sagt daher Nguyen Tien Luan, der vor Jahrzehnten selbst an einer deutschen Universität studierte. Deutschland sei daher noch immer ein attraktives Ziel für Vietnamesen, die gerne im Ausland arbeiten möchten. Dazu passt, dass laut dem Deutschen Akademischen Austauschdienst im Wintersemester 2022/23 über 7300 Vietnamesinnen und Vietnamesen an deutschen Hochschulen eingeschrieben waren. Zudem gibt es gerade im medizinischen Bereich viele Kooperationen mit dem südostasiatischen Land. Tausende von vietnamesischen Pflegekräften wurden in den vergangenen Jahren angeworben, um den Personalproblemen in den Krankenhäusern zu begegnen.
Durch die Kooperation zwischen der Gießener Sprachportal Akademie und der vietnamesischen Universität soll dieser Schritt noch leichter werden. »Wir planen, in Hanoi eine Außenstelle für Telc-Prüfungen zu etablieren«, sagt Sprachportal-Geschäftsführer Daniel Georg. Telc steht für The European Language Certificates, dabei handelt es sich um ein anerkanntes Sprachzertifikat. Wer diesen Nachweis erbringe, habe in Deutschland wesentlich bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, fügt Georgs Kollege Wu hinzu. Außerdem will die Gießener Einrichtung den vietnamesischen Kollegen dabei helfen, das deutsche Institut der Universität auszubauen. »Wir freuen uns über diese Kooperation und legen viel Wert auf Qualität«, betont Nguyen Tien Luan, der eigenen Angaben zufolge bereits viele Tausend Fachkräfte auf den Einsatz in anderen Ländern vorbereitet hat. Daher weiß der Bildungsexperte aus Hanoi: »Um sich zu integrieren, braucht es vor allem Sprache.«
Für die Abnahme der Telc-Abschlüsse werden die Prüfer digital in die Räume in Vietnam zugeschaltet. Die vorbereitenden Kurse hingegen leiten vietnamesische Lehrkräfte, die dafür von der Sprachportal Akademie geschult werden sollen. Gleichzeitig betont Wu, dass die Teilnehmer des Unterrichts nicht nur die Sprache, sondern auch Fachbegriffe aus der Arbeitswelt vermittelt bekommen sollen. Auf der kleinen Präsentation, die an diesem Morgen über den Bildschirm läuft, erklärt die virtuelle Krankenschwester zum Beispiel Wörter wie »Übergabeprotokoll« oder »Vitalzeichen«. Gleichzeitig hätten die Schüler auch die Möglichkeit, durch digitale Angebote das Gelernte auch nach der Prüfung zu vertiefen, damit bis zur Ankunft in Deutschland nicht alles wieder vergessen werde. »Außerdem werden auch Themen wie Arbeitskultur behandelt«, sagt Wu.
Die Kooperationsverträge für das Vorhaben sind bereits unterzeichnet, nun fehlt nur noch die offizielle Zustimmung aus dem vietnamesischen Bildungsministerium. Die Beteiligten sind aber zuversichtlich, dass noch dieses Jahr mit der Arbeit begonnen werden kann. Die Gießener Arbeitgeber dürften sich darüber freuen. Denn in Zeiten des akuten Personalmangels werden gerade im Pflegebereich nicht nur helfende Hände benötigt, sondern Menschen, die Sorgen und Nöte auch verstehen